10 Jahre Kindschaftsrechtsreform

– Umgangs- und Sorgerecht: wo bleibt noch Reformbedarf ?

(aus: Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe, ZkJ, 2008, Heft 7/8 – Jubiläumsheft, Seite 288 ff.)

– von RA und Fachanwalt für Familienrecht Alexander Heumann, Düsseldorf –

Mit der im Juli 1998 in Kraft getretenen Kindschaftsrechtsreform wurde die bis dahin strikte Unterscheidung des dt. Kindschaftsrechts zwischen nichtehelichen und ehelichen Kindern – als notwendige Konsequenz des verfassungsrechtlichen Gleichstellungsgebots in Art 6 V GG – beseitigt: Im Kindesunterhaltsrecht, beim Umgangsrecht, im Abstammungsrecht, Namensrecht und Erbrecht.

Auch wurde die für die nichteheliche Mutter bis dahin noch zwingend mit Geburt des Kindes einsetzende Amtsvormundschaft des Jugendamts (Aufgabenkreis: Vaterschaftsfeststellung und Geltendmachung des Kindsunterhalts) in eine freiwillige Beistandschaft umgewandelt. Ihr wurde nunmehr Betreuungsunterhalt für grds. 3 Jahre gewährt, ohne wenn und aber, bzw. mit echter Wahlfreiheit, ihr Kind selbst zu betreuen und Option auf Verlängerung in Ausnahmefällen bei „grober Unbilligkeit“. Für nichteheliche Eltern wurde erstmals ein gemeinsames Sorgerecht ermöglicht. Ich möchte mich bei dem Versuch einer Bilanz auf die Bereiche Umgangsrecht und Sorgerecht konzentrieren.

A. Sorgerecht – die unvollendete Reform

I. Sorgerecht bei nicht miteinander verheiratetem Eltern

Das Sorgerecht ist der einzige Bereich, in dem die Unterscheidung zwischen nichtehelichen und ehelichen Kindern bislang nicht fallen gelassen wurde. Anders als bei verheirateten Eltern hat die nichteheliche Mutter von Gesetzes wegen das alleinige Sorgerecht, während der Vater nur Mitinhaber des Sorgerechts werden kann, wenn er die Mutter heiratet oder beide Elternteile gemeinsame Sorgeerklärungen vor dem Jugendamt oder einem Notar abgeben (§§ 1626 a i.V.m. 1672 BGB). Lehnt die Mutter beides ab, bleibt der Vater von der elterlichen Sorge ausgeschlossen, solange keine gravierende Kindeswohlgefährdung zutage tritt (§§ 1666, 1680 BGB).[1]

Mit der Reform war die Hoffnung des Gesetzgebers verbunden, nicht verheiratete Mütter würden überwiegend bereit sein, zusammen mit dem Vater gemeinsame Sorgeerklärungen abzugeben. Für den Fall des Scheiterns der elterlichen Beziehung ergibt sich als Konsequenz gemeinsamer Sorgeerklärungen eine (Sorge-)Rechtssituation, die der scheidungswilliger Eltern entspricht (§ 1671 BGB). Diese Hoffnung hat sich aber nur teilweise erfüllt. Dennoch entschied das Bundesverfassungsgericht[2] 5 Jahre nach Inkrafttreten der Reform, dass dieser Rechtszustand mit Art 6 GG vereinbar sei, da es für diese Ungleichbehandlung triftige Gründe des Kindeswohls gäbe.[3]. Vom Gesetzgeber wurde lediglich eine Nachbesserung in Form einer Sonderregelung für Áltfälle´ verlangt, bei denen sich die Eltern schon vor Inkrafttreten der Reform getrennt hatten, da vor 1998 für unverheiratete Eltern keine rechtliche Möglichkeit zur Begründung gemeinsamer Sorge bestanden hatte. Diese Sonderregelung ist auch seit einigen Jahren in Kraft. Es ist jedoch – wenig überraschend – kein Fall bekannt geworden, bei dem es einem nichtehelichen Vater gelungen wäre, gerichtlich gegen den Willen der Mutter (würde sie zustimmen, täte es ja auch eine Erklärung vor dem Jugendamt und er bräuchte nicht vor Gericht zu ziehen) seine Mitsorge durchsetzen. Außerdem steht die ebenfalls vom BVerfG verlangte Rechtstatsachenforschung über Häufigkeit und Motivation unterlassener Sorgeerklärungen noch aus, so dass die Vereinbarkeit von § 1626 a mit Art 6 GG derzeit wieder zweifelhaft ist.

Nachdem nunmehr die Unterhaltsrechtsreform die Ungleichbehandlung nichtehelicher Kinder beim Betreuungsunterhalt beseitigt hat, werden die Stimmen wieder zahlreicher, die eine Reform des § 1626 a BGB fordern; m. E. wäre die Kindschaftsrechtsreform hier noch zu vollenden. Es geht nicht auf Dauer an, dass der von elterlicher Sorge ausgeschlossene nichteheliche Vater einerseits nach nachehelichem Maßstab Betreuungsunterhalt leistet, ihm andererseits jedoch weder sein Kind behandelnde Ärzte, noch vom Kind besuchte Kindergärten oder Schulen ohne mütterliches Einverständnis irgendwelche Auskünfte über sein Kind erteilen dürfen. Genau dies ist die momentane schiefe Rechtssituation seit dem 1.1.2008, die bei bestem Willen nicht mit dem „Kindeswohl“ zu rechtfertigen sein scheint.

Immer häufiger werden durch die Medien Fälle von Kindesmisshandlungen – und Vernachlässigungen bekannt, darunter auch Fälle, in denen das Jugendamt selbst warnenden Hinweisen des leiblichen Vaters nicht rechtzeitig oder sorgsam genug nachgegangen ist. Diese offenbaren also nicht nur, dass viele Jugendämter überfordert sind, sondern sind z. T. auch Resultat einer Familienrechtspolitik, die nichteheliche Väter nur als nebensächlichen Annex zur Mutter sieht und in dem Moment aus dem Leben des Kindes ausgrenzt und zum Zahlvater degradiert, in dem seine Beziehung zur Mutter scheitert.[4]

[Anmerkung: Beachte aber die Gesetzesnovelle von 2013: Seither können unverheiratete Väter ihr (Mit-)Sorgerecht auch gegen den Willen der Mutter beantragen. Familiengerichte können dann gemeinsames Sorgerecht festlegen, falls dies dem Kindeswohl nicht widerspricht.
Die Mutter kann innerhalb einer Frist Widerspruch gegen den väterlichen Antrag auf gemeinsames Sorgerecht einlegen. Die Frist endet frühestens sechs Wochen nach der Geburt des Kindes. In ihrem Widerspruch muss die Mutter begründen, warum das gemeinsame Sorgerecht in ihrem Fall nicht gut für das Wohl des Kindes ist. Lässt sie die Frist verstreichen, erhält der Vater im beschleunigen Verfahren das gemeinsame Sorgerecht. Eine mündliche Anhörung der Eltern entfällt bei diesem beschleunigten Gerichtsverfahren.

Die Reform des Sorgerechts ist nicht unumstritten. Besonders das beschleunigte Gerichtsverfahren ohne mündliche Anhörung wird vom Verband alleinerziehender Mütter und Väter (VAMV) kritisiert. Der Interessenverband Unterhalt und Familienrecht (ISUV) meint hingegen, dass die Reform nicht weit genug gehe. Der unverheiratete Vater sei immer noch gegenüber der Mutter benachteiligt, da er das gemeinsame Sorgerecht erst – mit ungewissem Ausgang – beantragen muss, während die Mutter es automatisch hat.
Am problematischsten dürften die neuen Gerichtsverfahren um das Sorgerecht für nichteheliche Kinder aber gerade dann werden, wenn die Mutter fristgerecht der gemeinsamen Sorge widerspricht: Jetzt ist die Arena wieder offen für das ´Waschen schmutziger Wäsche´ auf dem Rücken des Kindes.

Bei aller Sorge um das gemeinsame Sorgerecht ist immer zu vergegenwärtigen: Seit 1998 hat auch bei gemeinsamer Sorge immer derjenige Elternteil die alleinige Alltagssorge, bei dem das Kind mit Einverständnis des anderen Elternteils lebt. D.h., dieser Elternteil darf alle alltäglichen, das Kind betreffenden Entscheidungen alleine entscheiden. Nur in ihrer Bedeutung über den Alltag hinausreichende Entscheidungen zu Einschulung, Schulwahl, religiöser Erziehung, gesundheitlichen Angelegenheiten (z. B. pro /contra einer Operation) etc. hat er sich mit dem mitsorgeberechtigten anderen Elternteil abzustimmen.
Und das Umgangsrecht /Besuchsrecht besteht völlig unabhängig vom Sorgerecht, also auch für Eltern ohne Sorgerecht. Das Mitsorgerecht bringt jedoch noch einen entscheidenden Vorteil: Auskunftsrechte gegenüber Kindergärten, Schulen und alle das Kind behandelnden Ärzte – die dem Vater ohne dieses Mitsorgerecht nichts ohne Einwilligung der Mutter sagen dürfen. (Ende des Einschubs).]

II. Sorgerecht geschiedener Eltern

Hier hatte die Kindschaftsreform mit den neuen §§ 1671, 1687 f. BGB bei vielen die Hoffnung ausgelöst, der Fortbestand gemeinsamer elterliche Sorge würde von den Instanzgerichten von nun – „schon normtechnisch gesehen“[5] als ´gesetzlicher Regelfall´ aufgefasst werden, und ein Eingriff in das Sorgerecht eines Elternteils nach § 1671 BGB zur besonders zu begründenden ´Ausnahme´.
Hierfür spricht zum einen das ohnehin schon von Gesetzes her bestehende Alleinentscheidungsrecht des Residenzelternteils in „Angelegenheiten des täglichen Lebens“ (§ 1687 I 2 u. 3) – zumal dieser Begriff recht weit[6] ausgelegt wird. Zum anderen der Umstand, dass durch Scheidung veranlasste Sorgeverfahren nur noch auf Antrag eines Elternteils geführt werden. In der Tat interpretierten viele Oberlandesgerichte § 1671 zunächst in diesem Sinne.

Dem erteilte der BGH[7] jedoch schon 1999 eine Absage; dieser forderte für streitige Sorgeverfahren als Grundbedingung für die Aufrechterhaltung gemeinsamer elterlicher Sorge eine „beiderseitige Kooperationsbereitschaft“.[8] Infolgedessen war in den darauf folgenden Jahren bereits wieder mit der Eröffnung elterlicher Diskussion über den Umfang des zu gewährenden Besuchsrechts das Tor zum erfolgreichen Antrag auf Alleinsorge in toto seitens des die Obhut ausübenden Elternteils weit aufgestoßen.[9] Am 18.12.2003 postulierte das BVerfG[10] sodann explizit unter Berufung auf vorgenannte Entscheidung des BGH, dass der gemeinsamen elterlichen Sorge „von Verfassungs wegen kein Vorrang einzuräumen“ sei; sie sei auch nicht im Zweifel die beste Form der Wahrnehmung elterlicher Verantwortung sei. Ein letztes Machtwort schien gefallen.

Dann allerdings erkannte das Bundesverfassungsgericht[11] plötzlich im März 2004, dass auch bei sorgerechtlichen Entscheidungen nach Trennung/Scheidung nach § 1671 BGB der verfassungsrechtlich verankerte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten ist und man sich – als milderem Eingriff in das Elternrecht (Art 6 II GG) – darauf zu beschränken habe, nur einen „Teil der elterlichen Sorge“ (vgl. schon Wortlaut des § 1671 I) auf einen Elternteil allein zu übertragen, wo immer dies dem Kindeswohl Genüge tut.[12] Schon die Existenz des mit dem KindRG reformierten § 1628 BGB zeigt, dass es bei sorgerechtl. Streitigkeiten nicht immer nach dem Prinzip ´alles oder nichts´ gehen muß.

M. E. ist insoweit – noch weitergehend – verfassungsrechtlich gebotenes absolutes Minimum der Erhalt von Restbestandteilen des Sorgerechts wie etwa Informations- und Auskunftsrechten gegenüber Schulen, Kinderhorten, und Kinderärzten, die dem anderen Elternteil stets erhalten bleiben müssen.[13]

Dem BVerfG. folgt der BGH sodann mit Beschluß vom 11.05.05[14] bei einem elterlichen Streit um die religiöse Erziehung: Die Übertragung der elterlichen Sorge in toto hat er bei dieser Konstellation eines thematisch eingrenzbaren Erziehungsstreits als unverhältnismäßig betrachtet und zurückverwiesen. Seither bedarf es in sorgerechtlichen Verfahren offenbar wieder substantiierterer Darlegungen der antragstellenden Partei dazu, in welchen Bereichen elterlicher Sorge konkret Streitigkeiten vorliegen und inwiefern das Kindeswohl hierdurch beeinträchtigt wird.

Sinnvoller scheint es mir allerdings ohnehin, gleich andersherum und schon auf der 1. Stufe der Verhaltnismäßigkeitsprüfung zu fragen: Ist die Übertragung des Sorgerechts (oder eines Teils hiervon) im konkreten Fall überhaupt ein geeignetes Mittel, um die Situation für das Kind zu verbessern ?
Kann z.B. Streit über Umgangsrecht oder Unterhaltsrecht etc., kann überhaupt latente oder offene Feindseligkeit zwischen den Eltern zugunsten des Kindes reduziert werden, indem man in das Sorgerecht eines Elternteils eingreift ?[15] M. E. ist häufig eher das Gegenteil der Fall: Das Umgangsrecht wird infolgedessen oft dreister als zuvor boykottiert wird und es entsteht eine voraussehbare künftige Mehrbelastung des Gerichts zulasten des Kindes. Anders gerichteten Erwägungen laufen häufig auf das überholt geglaubte ´Ruhe´-Argument[16] hinaus. Zudem ermöglicht das alleinige – nach h. M. räumlich unbegrenzte – ABR den Wegzug mit dem Kinde,[17] was häufig zu einer abrupten und daher besonders kindeswohlschädlichen Reduzierung des Umgangs führt.

M. E. ist die Position des BGH aufgrund der Entscheidung des BVerfG. vom März 2004 überhaupt nicht mehr zu halten: Wenn ein Eingriff in das Eltern- bzw. Sorgerecht nur zulässig ist, soweit dies zum Wohle des Kindes erforderlich ist, so folgt daraus logisch eben doch ein Vorrang des Fortbestandes der gemeinsamen elterlichen Sorge.[18] Womit keineswegs gesagt sein soll, dass es keine Fälle gäbe, in denen die Alleinsorge des Residenzelternteils die bessere Sorgealternative für das Kind ist. Wie z.B. in o. g. Fall, der dem Beschluß des BVerfG. v. 18.12.2003 zugrunde gelegen hat: Dort hatte der Vater die Mutter vor der Scheidung schwer misshandelt und versucht, zu vergewaltigen. Auch bei „extremer Kulturverschiedenheit“ der Eltern mag gemeinsames Sorgerecht kindeswohlabträglich sein, so dass ein Eingriff in die elterliche Sorge auch nicht unverhältnismäßig erscheint; jedenfalls dann nicht, wenn ein Elternteil sich einer „mit Ausschließlichkeitsanspruch auftretenden Weltanschauung zugehörig fühlt“.[19]

B. Umgangsrecht

I. „Frühgeschichtlicher“ Zustand vor der Reform

Vor der Kindschaftsrechtsreform war das Besuchsrecht nichtehelicher Väter – abweichend vom Besuchsrecht von Vätern, die mit der Mutter verheiratet sind bzw. waren – im damaligen § 1711 BGB geregelt. Es war dort an die Voraussetzung geknüpft, das es „dem Kindeswohl dient“. Dieser Rechtsbegriff wurde von den Gerichten äußerst restriktiv ausgelegt[20] Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg erklärte später § 1711 BGB und die hierauf fußenden Entscheidungen für menschenrechtswidrig.[21] Einige betroffene Väter erhielten einen dem innerstaatlichen Recht unbekannten immateriellen Schadensersatz wegen des als unverhältnismäßig beurteilten staatlichen Eingriffs dt. Gerichte und Jugendämter in ihr Recht auf Familienleben (Art 8 I EMRK).[22]

II. Änderungen durch die Kindschaftsrechtsreform

1. Mit der Kindschaftsrechtsreform wurden dann glücklicherweise die §§ 1711 / 1634 a. F. durch den statusunabhängig für alle minderjährigen Kinder geltenden § 1684 ersetzt. Im Umgangsrecht war damit die Unterscheidung zwischen ehelichen und nichtehelichen Kindern beseitigt.

2. Flankierend hierzu wurde mit dem neuen § 1626 III BGB ein Paradigmenwechsel eingeleitet: In den zwischen Scheidungsreform (1977) und Kindschaftsrechtsreform (1998) liegenden 3 Jahrzehnten war man noch nahezu unisono davon ausgegangen, dass das Kind im Trennungskonflikt seiner Eltern vor allem in der neuen sozialen Familie des betreuenden Elternteils „zur Ruhe kommen“ sollte, um es hierdurch vor inneren Solidaritäts- und Loyalitätskonflikten (oder eben schlicht vor dem ´anderen´ Elternteil, mit dem es nicht mehr zusammenlebt) zu schützen – so die noch eindimensionale wissenschaftliche Sicht der Kinderpsychologen, Sozialarbeiter und – dem folgend – der Familienjuristen.[23] Demgegenüber sagt der neue § 1626 III BGB klipp und klar:
„Zum Wohl des Kindes gehört in der Regel der Umgang mit beiden Elternteilen“.

So bestand die zentrale Hoffnung – jedenfalls der Reformbefürworter – darin, auch nach Trennung /Scheidung der Eltern die Beziehung des Kindes zu beiden Elternteilen aufgrund der weitergehenden Einräumung des Besuchsrechts aufrechterhalten zu können. Insoweit kann aus der Praxis sicherlich berichtet werden, dass die neuen §§ 1684, 1626 III BGB zu Verbesserungen führten.

3. Allerdings scheinen immer noch viele hochstreitige Konflikte um das Kind kaum lösbar. Die Tendenz des Gesetzgebers, Bindungen des Kindes nach Möglichkeit zu erhalten, ist nicht immer leicht mit anderen Grundsätzen der Kindschaftsrechtsreform – Stärkung der Autonomie der Eltern, Freiwilligkeit und vor allem: Vorrang von Beratung vor gerichtlicher Entscheidung (§ 52 FGG) – in Einklang zu bringen. Bislang erweist sich paradoxerweise die Macht des Residenzelternteils in Punkto Umgangs- und Sorgerecht je unangreifbarer, desto unkooperativer und entfremdender (Stichwort: PAS[24]) bzw. desto weniger bindungstolerant er sich verhält.[25] Jedenfalls solange er nicht aktenkundig psychotisch, drogensüchtig oder gewalttätig gegenüber dem Kind ist oder das Kind nicht regelmäßig zur Schule schickt oder dieses geradezu ´im Schrank verhungern´ lässt.

Dies liegt an der kindlichen Bindung, die i.d. R. auch zu solchen Elternteilen nicht geringer ist, als zu erziehungsfähigen Elternteilen[26]. Aufgrund dieses unbestreitbaren Faktums und des ebenso unbestreitbaren kindlichen Bedürfnisses nach Kontinuität werden Neurosen[27], selbst schwere, in sorge- und umgangsrechtlichen Verfahren von Familiengerichtsbarkeit und Jugendämtern – sofern sie überhaupt im Ansatz erkannt werden – mehr oder weniger hingenommen, ohne dass dem näher nachgegangen wird. Dies führt dazu, dass insbesondere die verhältnismäßig schwer erkennbaren[28] psychischen Misshandlungen (§ 1631 II BGB[29]) durch ein allzu grob gestricktes Wahrnehmungs-Raster fallen. Sie finden in einer Grauzone statt, für die Jugendämter offenbar nicht hinreichend qualifiziert[30] sind und/oder schlicht keine Zeit haben. Dass hier ein eklatanter Mangel an personeller und materieller Ausstattung herrscht, hat sich längst herumgesprochen.[31] Zuweilen scheint in sorge- und umgangsrechtlichen Verfahren ein psychiatrischer Sachverständiger zur Abklärung grds. Erziehungsfähigkeit erforderlich zu sein. Hier wird – selbstverständlich – primär versucht, Konflikte zwischen den beteiligten Eltern zu lösen und diese Sichtweise eignet sich naturgemäß nur bedingt, Kindeswohlgefährdungen aufzudecken.[32] Die für Fälle jugendamtlicher Interventionen in problematischen Familiensituationen erhobene Forderung, der Sachverständige möge bei Feststellung akuter Kindeswohlgefährdung schnellstmöglich Gericht und Jugendamt benachrichtigen[33], würde der Verfasser daher gerne auch für Begutachtungssituation in Sorge- und umgangsrechtlichen Verfahren gesetzlich verankert sehen.

4. Eine ´Totgeburt´ war insoweit das ebenfalls mit der Kindschaftsrechtsreform ins Leben gerufene sog. Vermittlungsverfahren bei Vereitelung oder Erschwerung des (bereits in einem vorangegangen Erkenntnisverfahren beschlossenen) Umgangs (§ 52 a FGG): Nach dessen Absatz V prüft das Gericht im Falle seines Scheiterns (auf Antrag – oder auch von Amts wegen !), „ob Zwangsmittel ergriffen, Änderungen der Umgangsregelung vorgenommen oder Maßnahmen in Bezug auf die Sorge ergriffen werden sollen“. Von seinem Wortlaut her stellt § 52 a FGG eigentlich das für die Lösung hochstreitiger Umgangsfälle erforderliche Instrumentarium zur Verfügung. In der Praxis hat diese Vorschrift bislang jedoch ein mehr oder weniger unbekanntes Schattendasein geführt. De lege ferenda sollte der Gesetzgeber im Rahmen der FGG-Reform in einer einschlägigen mat.-rechtl. Vorschrift (z.B. als neuer Absatz 5 des § 1684 BGB) ausdrücklich auf § 52 a FGG hinweisen, um die Vorschrift aus ihrem Schattendasein zu befreien und das hierin enthaltene, bereits vorhandene Potential auszuschöpfen.

5. Nach wie vor unbefriedigend sind die Möglichkeiten der Vollstreckung des Umgangsrechts. Zum Teil wird das vorangegangene Erkenntnisverfahren praktisch komplett wiederholt. Begrüßenswert an der FGG-Reform ist insoweit insb. der Wegfall des zeitraubenden Erfordernisses der (isoliert mit Beschwerde angreifbaren) Vollstreckungsandrohung, die künftig durch eine obligatorische und pauschale Belehrung im Umgangsbeschluß ersetzt werden soll. Sehr vernünftig.

6. Inwieweit der mit der FGG-Reform Gesetz werdende ´Umgangspfleger´, der in geeigneten Fällen zeitlich begrenzt auf Umgangszeiten das Aufenthaltsbestimmungsrecht erhalten soll, zu einer effektiveren Durchsetzung des Umgangsrecht führen wird, bleibt abzuwarten. Wird das Kind nicht zum Umgang herausgegeben, benötigte auch er einen Herausgabebeschluß.[34] M. E. eignet sich der Umgangspfleger zum einen, wenn mit Hilfe eins neutralen Dritten ein Aufeinandertreffen der Eltern bei der Übergabesituation überhaupt vermieden werden soll.[35] Zum anderen könnte er positiven Einfluß auf die Verfahrensbeteiligten insofern erlangen, als er quasi als ´sachverständiger Zeuge´ dem Gericht (und gfs. auch dem Sachverständigen) unmittelbar vom Geschehen ´vor Ort´ berichten kann, über das man bislang angesichts widerstreitender Behauptungen nur mutmaßen konnte.

7. Mit § 158 FamFG-E soll erstmals Aufgabe und Rechtsstellung des Verfahrenspflegers /VP näher gesetzlich bestimmt werden. Insb. wird – entgegen der Meinung vieler Gerichte, allen voran das BVerfG.[36] – endlich vom Gesetzgeber klargestellt, daß dieser (vergütungsfähig) mit Eltern wie auch dem Kind und dessen sonstigen Bezugspersonen reden und auf eine gütlichen Einigung hinwirken darf, womit der zuweilen beklagte „traurige Alltag in der Verfahrenspflegschaft“[37] tendenziell bald ein Ende haben dürfte. Der Gesetzgeber sollte nur nicht erneut zu konturlosen Worthülsen greifen, die bisher schon zu Auslegungsstreitigkeiten führten (insb.: „Wahrnehmung der Interessen des Kindes“, § 50 I FGG: Bis heute ist nicht geklärt, ob der VP lediglich ´Sprachrohr´ des (subjektiven) kindlichen Willens sein soll oder auch das (objektive) Kindeswohl zu berücksichtigen hat).

D. Weiterer Reformbedarf ?

Was das Kindschaftsrecht ´im Innersten zusammenhält´ sind vor allem die ungeschriebenen (z. T. auch unbewusst bleibenden) inneren Einstellungen, Werte, Überzeugungen, Orientierungen – z. T. auch: krassen Vorurteile[38] – der scheidungs- bzw. trennungsbegleitenden Professionen. Bei Richtern nennt man das innerhalb der juristischen Methodenlehre „Vorverständnis“[39]. Dies betrifft das Kindschaftsrecht aufgrund seiner Nähe zu den im Vergleich zu den Naturwissenschaften ´weichen´[40] Sozialwissenschaften, namentlich der Psychologie, in besonderem Maße.

I. Bedeutung und Reform des FGG – Rolle der Richter:

1. Manche Familienrichter führen im Kindschaftsrecht unter der Ägide des FGG in seiner bisherigen Fassung eine Art Kadi-Judikatur, die sich weder um Vorgaben von Bundesverfassungsgericht, noch Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte, noch um aktuellen psychologischen Forschungsstand schert.

Der Name „Freiwillige Gerichtsordnung“ scheint Programm: Freiwillig – so mancher Richter – zu finden eher unter denjenigen, die den Dt. Familiengerichtstag nicht regelmäßig zu besuchen pflegen -, versteht das scheinbar so, als ob für ihn alles freiwillig ist: ob Zeugen gehört werden, Kinder angesichts der Klage, sie würden beim betreuenden Elternteil geschlagen, dazu angehört werden, ob Geschwister einzeln oder zusammen angehört werden (häufiger Fehler m. E.), ob für zeitnahe Terminierung gesorgt wird; ob überhaupt durch zeitorientierte Sachbehandlung wenigstens für eine Entscheidung in angemessenen zeitlichen Rahmen gesorgt wird, mit der man dann endlich zum Oberlandesgericht darf: Alles Ermessensache – und der Weg zum BVerfG oder gar zum europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist weit.

2. Die Kindesanhörung erfolgt regelmäßig unter Ausschluß der Eltern und ihrer Rechtsbeistände, gfs. im Beisein des Verfahrenspflegers. De lege ferenda ist mit Blick auf das eherne Gebot des rechtlichen Gehörs zu fordern, dass für das Gericht deren Mitschneiden auf Tonband obligatorisch ist[41], welches den Rechtsbeiständen anschließend vorgespielt wird; hiervon sollte nur im Einzelfall abgesehen werden dürfen, wenn hierdurch eine Kindeswohlgefährdung zu befürchten ist.

3. Immer wieder kommt es vor, dass Familiensenate sich – auch insoweit ungeachtet der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts – schon weigern, in 2. Instanz überhaupt nochmals mit den Beteiligten zu verhandeln und stattdessen im schriftlichen Verfahren die Beschwerde unter Hinweis auf die angeblich „überzeugende Begründung“ des Erstrichters ´abbügeln´ – ohne den Betroffenen mitzuteilen, was daran überzeugend war. De lege ferenda sollte der Gesetzgeber im reformierten FGG explizit die mündliche Verhandlung für jede Instanz[42] gesetzlich vorschreiben und – vorsorglich – klarstellen, dass alles, was für die 1. Instanz an gesetzlichen Neuerungen bald Wirklichkeit werden soll, auch für die 2. Instanz gilt. Es scheint ausgerechnet im Kindschaftsrecht häufig am gesetzlichen Zwang zum eigentlich ´Selbstverständlichem´ zu fehlen.

4. Weitere Beispiele:

a) Erfreulich wäre ein gesetzlicher Hinweis im 4. Buch des BGB, dass auch in Kindschaftsachen die völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands, insb. die EMRK und die hierzu ergehenden Entscheidungen des Europ. Gerichtshofes für Menschenrechte, für Justiz und Behörden als innerstaatliches Recht beachtlich[43] sind. Die wenigen Hinweise im GG (Art 20 III, 25, 59 II), erscheinen unzureichend.

b) Das am Horizont auftauchende Beschleunigungsgebot für bestimmte Kindschaftssachen in § 155 FamFG-E[44] gehört hierhin. Allein durch die zukünftig obligatorische Verfahrensbeschleunigung wird nicht nur dem kindlichen Zeitempfinden Rechnung getragen, sondern auch richterlichem Machtmißbrauch wirkungsvoll vorgebeugt: Bislang mussten Betroffene in Kinderverfahren zuweilen schon froh darüber sein, wenn das Gericht überhaupt in irgendeiner Weise tätig wird, so dass gegen falsche Zwischenentscheidungen (Beispiel: Auftragsvergabe an ein Sachverständigen-Institut, welches seinerseits dann erst die Auswahl der Person des SV. i. e. S. vornehmen soll) erst gar kein Protest erhoben wird, weil man den hierdurch befürchteten zusätzlichen Zeitverlust gar nicht erst in Kauf nehmen will. Aus demselben Grund unterbleiben häufig Befangenheitsanträge, Untätigkeitsbeschwerden etc.

II. Man sollte allerdings auch die Sachverständigen – allzu häufig die ´heimlichen Richter´ – von der Forderung nach Verfahrensbeschleunigung nicht ausnehmen.

De lege ferenda ist im Hinblick auf Sachverständigentätigkeit zu fordern:

1. Dem Sachverständigen sind zukünftig verbindliche Fristen für die Erstellung des Gutachtens zu setzen (§ 163 I FamFG-E); vor Auftragsvergabe hat das Gericht sich auf dem ´kurzen Wege´ – telefonisch, via Fax oder Email – nach der derzeitigen Kapazität des SV. zu erkunden bzw. innerhalb welchen Zeitraums dieser zur Gutachtenerstellung in der Lage ist;

2. SV. sollten innerhalb festzulegender Zeiträume nur eine begrenzte Anzahl an Aufträgen seitens ein und desselben Gerichts erhalten dürfen, damit der Gefahr ´ergebnisorientierter´ SV-Auswahl und „Kumpanei“[45] zwischen Gerichten und Gutachterfirmenbegegnet wird. Überhaupt ist alles zu vermeiden, was dauerhafte wirtschaftliche Abhängigkeit des SV. vom Gericht begünstigt. Bevorzugt sind Sachverständige zu beauftragen, die über mindestens 1 weiteres ökonomisches Standbein verfügen (ambulante Praxis, Beschäftigung in Klinik / Krankenhaus etc.), schon wegen der damit zu erwartenden erforderlichen Lebenserfahrung und persönlichen Autorität im Umgang mit betroffenen Elternteilen;

3. Der SV. ist in Fällen, bei denen die Erforderlichkeit einer Sachverständigentätigkeit voraussehbar ist, schon zum ersten Termin zu laden.[46]

4. Gesetzliche Verpflichtung für den im gerichtlichen Auftrag tätigen Sachverständigen, jedes Explorationsgespräch bzw. Interview zu Dokumentations- und Beweiszwecken auf Tonträger mitzuschneiden (Transparenz als Gebot wissenschaftlichen Vorgehens) und den Betroffenen auf Wunsch Kopien hiervon zugänglich zu machen, zumal andernfalls auch die Gefahr von Informationsverlusten bis zur Verschriftlichung besteht. Mitschriften /Notizen sind angesichts der existenziellen Bedeutung der Gutachten für Betroffene und ihre Kinder nicht als ausreichend zu betrachten.[47] Denkbare wirksame Sanktion bei Nichtbefolgen: Nichtverwertbarkeit des Gutachtens mit Verlust des Vergütungsanspruchs.

5. Verpflichtung des SV. während der Dauer der Begutachtung auf Verlangen des beauftragenden Gerichts Zwischenberichte und kurzfristige fachliche Stellungnahmen zur einstweiligen Regelung von Umgang oder Aufenthaltsbestimmungsrecht abzugeben[48]: schriftlich – oder noch effektiver: mündlich in einem anzuberaumenden ´Zwischentermin´, da die Betroffenen nur auf diese Weise die Möglichkeit zur unmittelbaren persönlichen Befragung erhalten, womit ihr Recht auf rechtliches Gehör am effektivsten gewahrt bleibt.

6. Klarstellende gesetzliche Verweisung in der FGG auf §§ 402 – 411 ZPO „I. ü. gelten die §§ 402 – 411 ZPO“.

III. Problem der „innerstaatlichen Kindesentführungen“ [49]:

1. Dankenswerter Weise beschäftigt sich § 154 FamFG-E mit den leidigen Fällen eigenmächtiger Änderung des Aufenthaltsortes des Kindes. Aufgrund des geplanten Beschleunigungsgebots ist ein Bedürfnis hierzu auch (noch) weniger anzuerkennen, als bisher. Unstreitig ist, dass das Kind durch räumliche Trennung und Wegzug eines Elternteils einen doppelten Wohnsitz erlangt, infolgedessen die örtliche Zuständigkeit sowohl des Gerichts am bisherigen gewöhnlichen Aufenthaltsort, als auch am neu begründeten gegeben ist[50]. Nunmehr soll, wenn – wie meist – ein Elternteil das Verfahren am Gericht des neuen Kindesaufenthalts anhängig macht, eine Abgabe an das Gericht des früheren gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes als sachnäheres Gericht ermöglicht werden. Da sich das Gericht des früheren gewöhnlichen Aufenthalts zuvor zur Übernahme bereit erklären muß (per Beschluß ?) und die Beteiligten auch noch vorher angehört werden sollen (§ 4 FamFG-E)[51] sind Chaos und das Hin- und Herschieben von Akten vorprogrammiert.

2. Situation bei gemeinsamer Sorge bzw. gemeinsamen ABR:

a) Bei gemeinsamer elterlicher Sorge sollte für Fälle eigenmächtiger Änderung des Aufenthalts des Kindes de lege ferenda das Haager Rückführungsabkommen sinngemäß in das ´neue´ FGG implimentiert werden: Sofortige Rückführung der Kinder in die bisherige Familienwohnung zum dort verbliebenen Elternteil. Hierzu bedarf es gesetzestechnisch nur einer Verweisung („gilt entsprechend“). Gegen Elternteile, von denen häusliche Gewalt ausgeht, kann nach dem Gewaltschutzgesetz oder nach § 1361 b BGB (Vorläufige Zuweisung der Ehewohnung) vorgegangen werden.

b) Bereits de lege lata könnte diesen Fällen mit Beschlüssen nach § 1628, Satz 2 BGB[52] oder § 1687 II BGB[53] begegnet werden, ohne gleich die grds. Obhutsberechtigung des Residenzelternteils in Frage stellen zu müssen. Nach § 1687 II „kann das Familiengericht die Befugnisse nach Absatz 1 Satz 2“ – also insb. die Befugnis zu Alleinentscheidung in „Angelegenheiten des täglichen Lebens“ – „einschränken oder ausschließen, wenn dies zum Wohl des Kindes erforderlich ist“. Die Eingriffsschwelle ist niedriger als bei § 1666 BGB.[54] Richtigerweise wird man unbegrenzte Wohnsitzverlagerung ohnehin nicht mehr als „Angelegenheit des täglichen Lebens“ auffassen können, es müsste folglich im Erst-Recht-Schluß § 1687 II analog anwendbar sein. Auch nach § 1628 Satz 2 kann die Übertragung der Alleinentscheidungskompetenz auf einen Elternteil „mit Einschränkungen oder mit Auflagen verbunden werden“, ergo z. B. auch mit räumlichen Auflagen. Von diesen Vorschriften macht die Praxis bislang keinen Gebrauch.

c) Wenn ein Elternteil, der für sich in Anspruch nimmt, die stärkere Bindung[55] zum Kinde zu haben, die gemeinsamen Kinder von Kindergärten und Schule abzumelden und ihrem bisherigen sozialen Umfeld zu entreißen droht, sollte sorgfältiger als bisher erwogen werden, ob den Kindern nicht dadurch die Beziehung zu beiden Elternteilen erhalten werden kann und dem Kind (wie auch der überlasteten Justiz) jahrelange Folge-, insb. Umgangs- und Sorgeänderungsverfahren, erspart bleiben kann, dass der Elternteil mit der größeren Bindungstoleranz das Aufenthaltsbestimmungsrecht erhält, sofern dieser zur Übernahme der Obhut willens und in der Lage ist und das Kind auch zu ihm eine starke Bindung hat.[56]

Hilfsweise: Im Bereich der Pflegekinderfälle sind Konstellationen bekannt, wo man leiblichen Eltern die elterliche Sorge mit der Maßgabe bzw. unter der Bedingung lässt, dass sie das Kind nicht eigenmächtig aus der Obhut von Pflegeeltern herausnehmen. Analog hierzu erscheint es in Fällen, bei denen die Erziehungsfähigkeit des Residenzelternteils aufgrund mangelnder Bindungstoleranz zweifelhaft ist, denkbar, dem Umgangselternteil das alleinige Aufenthaltsbestimmungsrecht bei i. ü. gemeinsamer Sorge mit der Auflage zu übertragen, hiervon nicht eigenmächtig Gebrauch zu machen.[57] Notfalls kann dem Residenzelternteil mit einer Verbleibens- (und Herausgabe-)anordnung nach § 1632 BGB analog geholfen werden.

3. Situation bei alleinigem Sorgerecht bzw. ABR. eines Elternteils

H. M. und Praxis begegnen überdies erhebliche Bedenken[58], soweit sie bislang von unbegrenzter räumlicher Reichweite des alleinigen Sorgerechts bzw. Aufenthaltsbestimmungsrechts (§ 1631 I BGB) ausgehen. Und das grds. Verhältnis zwischen Sorgerecht und Umgangsrecht ist nicht frei von Widersprüchen.

a) Die h. M. sieht den Residenzelternteil zwar einerseits verpflichtet, den Umgang des Kindes mit dem anderen Elternteil aktiv zu fördern, jedoch keineswegs in der Pflicht, ein persönliches Interesse am Wegzug mit Blick auf das Kindeswohl zurückzustellen.[59]

aa) Eine Differenzierung nach Entfernung vom bisherigen räumlichen und sozialen Umfeld des Kindes erfolgt nicht. „Ein sorgeberechtigter Elternteil kann seinen künftigen Wohnort und Lebenskreis selbst bestimmen und ist nicht gehalten, am ehemaligen Familienwohnsitz oder in dessen unmittelbarer Nähe zu bleiben, um dem anderen Ehegatten die Besuchtskontakte mit den Kindern möglichst zu erleichtern“.[60] Grundsätzlich kann er daher seinen Wohnsitz dauerhaft in ein anderes Bundesland, in ein anderes europäisches Land oder sogar auf einen anderen Kontinent verlegen[61], „selbst wenn dadurch das Umgangsrecht faktisch eingeschränkt oder gar ganz ausgeschlossen wird“.[62] Insbesondere stellt dies nach h. M.[63] i.d.R. keinen hinreichenden Grund dar, eine Sorge- oder Umgangsentscheidung nach § 1696 BGB nachträglich abzuändern[64] oder nach § 1666 BGB in das Sorgerecht des betreuenden Elternteils einschränkend einzugreifen.

bb) Das soll nur dann nicht gelten, wenn eine Auswanderung lediglich der Vereitelung des Umgangs dienen soll.[65] Die sog. Feststellungslast trägt also theoretisch der derjenige Elternteil, der seinen Wohnsitz ändern möchte, er hat seine Gründe substantiiert vorzutragen.[66] Diese Gründe und die Gefährdung des Umgangs mit dem anderen Elternteil sind gegeneinander abzuwägen.[67] In der Praxis werden Gründe aber z. T. schnell als ´triftig´ bewertet: Soziale Gründe (neuer Lebensgefährte, Rückkehr zur Herkunftsfamilie), (bloße) Hoffnung auf bessere Arbeitsmöglichkeiten.[68] Hilfsweise wird auf angebliche häusliche Gewalt des Ex-Partners rekurriert (Wegzug als Flucht). Missbrauchsgefahr liegt auf der Hand.[69]

cc) Zwar gibt selbst das alleinige ABR. dem betreffenden Elternteil nicht das Recht zu einem Umzug mit Schulummeldung ohne Zustimmung des anderen Elternteils, da Letzteres eine Entscheidung erheblicher Bedeutung i. S. d. § 1687 I 2 BGB beinhaltet.[70] Jedoch wird das in der Praxis nicht von allen Schulen beachtet.

b) Bedenken

aa) Das Umgangsrecht steht jedoch unter dem besonderen Schutz des Art. 6 GG in Verbindung mit Art. 8 EMRK[71]. Nach der Generalklausel zur elterlichen Sorge „gehört zum Wohl des Kindes in aller Regel der Umgang mit beiden Elternteilen“ (§ 1626 III BGB), womit der „überragenden Bedeutung“[72] des Umgangsrechts Rechnung getragen wird. Der betreuende Elternteil hat die Kontakte zum Kind nicht nur zuzulassen, sondern aktiv zu fördern.[73] Das Umgangsrecht gilt auch als „absolutes Recht“ iSv. § 823 I BGB[74] oder jedenfalls „gesetzliches Rechtsverhältnis familienrechtlicher Art“[75], dessen Verletzung (materielle) Schadensersatzansprüche auslösen kann.[76] § 1684 IV Satz 1 BGB lässt Einschränkungen des Umgangsrechts nur zu, soweit dies zum Wohl des Kindes erforderlich ist, § 1684 IV Satz 2 BGB – Umgangseinschränkung „für längere Zeit“ nur bei „Kindeswohlgefährdung“ zulässig.

bb) Zudem wird das Sorgerecht in der Judikatur des BVerfGs eigentlich als pflichtgebundenes Recht charakterisiert, welches eingebunden ist in die Elternverantwortung.[77]Insbesondere ergibt sich aus der Herleitung sowohl des Umgangsrechts als auch des Sorgerechts unmittelbar aus Art 6 Abs 2 GG, dass beide Eltern im Verhältnis zueinander ihre Rechte zu respektieren haben. Insbesondere muß auch ein allein sorgeberechtigter Elternteil grundsätzlich den persönlichen Umgang des Kindes mit dem anderen Elternteil ermöglichen.[78] Der Konflikt ist also nach dem verfassungsrechtl. ´Prinzip der praktischen Konkordanz´ (Hesse) zu lösen. Kein Grundrecht (erst recht nicht das Umgangsrecht des Kindes) darf zugunsten des anderen de facto ausgehöhlt werden. Genau dies ist aber häufig das praktische Ergebnis der h. M.

cc) Zur restriktiveren Auslegung des § 1631 I BGB könnte auch Artikel 3 I der UN-Kinderrechtekonvention[79] Anlaß geben. Hiernach “achten die Vertragsstaaten das Recht des Kindes, das von einem oder beiden Elternteilen getrennt ist, regelmäßig persönliche Beziehungen und unmittelbare Kontakte zu beiden Elternteilen zu pflegen, soweit dies nicht dem Wohl des Kindes widerspricht“.

dd) Vergegenwärtigt man sich weiterhin, dass bereits das Umgangsrecht des nichtsorgeberechtigten Elternteils[80], erst recht aber das Sorgerecht, strafrechtlichen Schutz aufgrund des Straftatbestandes § 235 StGB genießt, so kann wenig Einheitlichkeit der Rechtsordnung festgestellt werden.

ee) Nach dem Wohlverhaltensgebot des §1684 II 1 BGB haben beide Eltern „alles zu unterlassen“, was „das Verhältnis“ des Kindes zum anderen Elternteil „beeinträchtigt“. Eine erhebliche Erschwerung des Besuchsrechts qua ´Fernumzug´ beeinträchtigt i. d. R. dieses Verhältnis, insbesondere bei noch kleineren Kindern aufgrund deren besonderen Zeitempfindens. Soweit überhaupt noch sporadische Umgangskontakte stattfinden können, sind diese häufig nicht mehr geeignet, den primären Sinn des Umgangsrechts zu verwirklichen (Vermeidung von Entfremdung, dem „gegenseitigen Liebesbedürfnis Rechnung zu tragen“[81], Identitätsfindung, auch Erhalt eines ´Reserveelternteils´ für den Fall schwerer Krankheit /Todes des Obhutelternteils). Das Umgangsrecht ist bei großer räumlicher Distanz auch noch schwerer gegen Widerstände durchsetzbar als ohnehin schon.

c) Nachträgliche Auflage ?

Der BGH[82] hat zur Frage des Sorgerechts nichtehelicher Eltern einer „verfassungskonformen Auslegung des § 1666 BGB“ das Wort geredet: In die Prüfung, ob eine mißbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge durch die Mutter vorliege, sei auch einzubeziehen, ob und inwieweit die Mutter das Elternrecht des Vaters angemessen zur Geltung bringe……“.[83]Die Tatsacheninstanzen sehen sich gleichwohl bislang i. d. R.[84]außerstande, das Aufenthaltsbestimmungsrecht des Sorgeberechtigten – nach § 1666 als im Verhältnis zum Entzug des Rechtes weniger scharfer Maßnahme oder auf Grundlage des Wohlverhaltensgebots (§ 1684 II BGB) – zum Schutze des Umgangsrechts[85] räumlich zu beschränken.[86] Dabei ermächtigt schon § 1684 III 2 das Familiengericht ausdrücklich, die Beteiligten durch „Anordnungen“ zur Erfüllung der Wohlverhaltenspflicht anzuhalten, die „in erster Linie als Unterlassungspflicht ausgestaltet“[87] ist. Diese Unterlassungspflichten sollen nach dem Willen des Gesetzgebers nach Abs. III 2 durchsetzbar sein – auch unterhalb der Schwelle der Kindeswohlgefährdung i.S.d. § 1666 BGB[88] oder wenn diese erst droht. Sie können – sofern hinreichend bestimmt – auch Grundlage für Zwangsmittel des § 33 FGG sein.[89] Persönlichkeitsrecht (Art 2 I GG) und Recht auf Freizügigkeit (Art 11 GG) des Sorgrechtsinhabers stehen dem nicht entgegen.[90] Denn es geht nicht darum, diesem Auswanderung oder innerstaatlichen Fernumzug zu verbieten, sondern hierbei das Kind mitzunehmen, wenn dies mit dessen Wohl nicht zu vereinbaren ist.[91]

d) Auflage von vorne herein ?

In zwei OLG-Entscheidungen wurde der „nicht befriedigend zu lösende Konflikt“[92] zwischen Freizügigkeit des Sorgeberechtigten und Umgangsrecht dadurch entschieden, dass das ABR. von vorne herein räumlich beschränkt wurde:

(1) OLG Schleswig vom 26.02.2003[93] (Tenor): „Die Übertragung des ABR. auf einen Elternteil kann mit Beschränkungen versehen werden, die eine Verbringung des Kindes ins Ausland ausschließen.“ Der Senat hat dies mit der Erwägung begründet, das Kind solle weiterhin in seinem gewohnten sozialen Umfeld in Dt. aufwachsen, damit der für seine Entwicklung unbedingt notwendige enge Umgang mit dem anderen Elternteil gesichert sei.

(2) OLG Frankfurt v. 16.09.2002[94]: Übertragung der alleinigen Sorge auf die Mutter mit der „Maßgabe“, den „gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes nicht ohne Einverständnis des Vaters ins Ausland zu verlegen“. Die Beschränkung wurde auf § 1666 gestützt; sie sei erforderlich, um eine „Gefährdung des Kindeswohls zu vermeiden“.

Außerdem entschied das OLG München[95] in einem Sorgeänderungsverfahren nach § 1696 BGB (Leitsätze der Redaktion): „1. Eine räumliche Beschränkung des Aufenthalts‑ und des Schulbestimmungsrechts des Vaters kann geboten sein, um den intensiven Umgang der Kinder mit der Mutter zu gewährleisten.

2. Machen künftig ‑ überzeugend darzulegende – triftige berufliche Gründe einen Wegzug des Vaters erforderlich, stellt sich die Frage des Aufenthaltsbestimmungsrechts neu, wobei auf die Bedürfnisse der Kinder und die berechtigten Interessen der Mutter Rücksicht zu nehmen ist.“ [96]

Das erforderliche gesetzliche Instrumentarium ist also vorhanden, auch wenn es selten genutzt wird. De lege ferenda sollte der Gesetzgeber diese Möglichkeit explizit gesetzlich verdeutlichen und in § 1671 I verankern, etwa als ergänzenden Satz 2.

E. Ausblick

Eine Bilanz der Kindschaftsrechtsreform kann nicht völlig am Unterhaltsrecht vorbeischauen. Für die Zukunft wird es noch wichtiger als bisher, sich angesichts der Unterhaltsrechtsreform, insb. der Neufassung des § 1570 – früher Wegfall auch noch des 2. Elternteils ?! – auf die überragende Bedeutung des Umgangsrechts zu besinnen. Noch ist die Auslegung des neuen § 1570 streitig[97], doch BVerfG. und ihm folgend der Gesetzgeber haben sich mit der grundsätzlichen Grenze des Betreuungsalters beim 3. Geburtstag des Kindes weit aus dem Fenster gehängt. Gesellschaftspolitschen Tendenzen, diese Grenze noch weiter runterzuschrauben, haben bereits die Dt. Psychoanalytische Vereinigung (DPV) veranlasst, ein warnendes Memorandum[98] zu veröffentlichen – warum wird dieses in keiner fam.-rechtl. Fachzeitschrift abgedruckt ? Stattdessen wird messerscharf geschlossen – man fühlt sich abrupt um Jahrzehnte zurückversetzt -, dass die Vollstreckung des Umgangsrechts abgeschafft gehöre – schließlich müsse, was für einen umgangsunwilligen Vater gelte, erst recht für die Kinder gelten ….

Im Kinderbetreuungsurteil [BVerfG. 2 BvR 1057/91 (69)] hatte das Bundesverfassungsgericht noch Wahlfreiheit für Familien (Betreuung oder Krippe) gefordert und verlangt, dass der hohe gesellschaftliche Wert der Kindeserziehung sich z.B. auch beim Rentenbezug mehr als marginal niederschlägt. Das „Elterngeld“ ist in Wahrheit keines, denn es begünstigt wiederum primär die Doppelverdiener-Familie. Nun spricht man nur noch von Heimchen am Herd bzw. Flachbildschirm und angeblichen pädagogischen Vorteilen von Krippen – ohne sich lange mit der entscheidenden Frage nach der (im europäischen Ausland in der Regel besseren) Qualität der Krippen, insbesondere einer hinreichenden und qualifizierten personellen Ausstattung, aufzuhalten. Wollen wir wirklich eine familienfreundliche Gesellschaft und Wirtschaft – oder doch nur noch die ökonomieangepasste Familie? Menschlicher – aber auch nachhaltiger – erscheint mir Ersteres.

Rechtsanwalt Alexander Heumann

Alexander Heumann
Fachanwalt für Familienrecht

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